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Heppenheimer Wachstumsjahre 1946-1972:

Vom Nachkriegselend bis zur Gebietsreform

 

Zwischen dem Ende des Zweiten Weltkriegs und der 1973 beginnenden Weltwirtschaftskrise erlebten die Menschen in Westdeutschland ein „Wirtschaftswunder“: Den Weg aus Nachkriegsnot und Flüchtlingselend hin zu einem in diesem Lande beispiellosen Wohlstand. Eine Erfolgsgeschichte, an der auch Heppenheim beteiligt war. In einer fünfteiligen Serie im Starkenburger Echo habe ich 2002 in groben Zügen die lokale Entwicklung beschrieben.

 

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Wenn Heppenheim auch von größeren Zerstörungen durch den Krieg verschont blieb, hatte man doch auch hier an den Folgen zu tragen. Evakuierte mussten aufgenommen werden, und das ohne die Möglichkeit, zusätzlichen Wohnraum zu schaffen, denn die Bautätigkeit war während des Krieges natürlich weitgehend eingestellt. Nach Kriegsende kam neuer Zuzug durch die Vertriebenen, längst bevor durch Rückwanderung von Evakuierten eine spürbare Verbesserung eintreten konnte. Zudem beschlagnahmten nun die amerikanischen Truppen zahlreiche Wohnungen oder ganze Häuser wie die Villa Schüssel. „Seit Kriegsbeginn hat sich die Bevölkerung durch die mannigfachen Zuzüge bis heute um 3144 Personen vermehrt, das heißt um 25%“, heißt es im Verwaltungsbericht des Bürgermeisters für das Jahr 1947.

Kurzfristig blieb den Behörden nur die Möglichkeit, den Mangel möglichst gerecht zu verteilen. Und das ging nicht ohne Zwang, sprich: Beschlagnahmung von Zimmern oder ganzen Wohnungen und Einweisung von Mietern. Allein 1947 wurden auf Beschluss der städtischen Wohnungskommission 467 Wohnungen und Einzelzimmer beschlagnahmt. Durchschnittlich 7,7 Quadratmeter pro Person standen 1946 in Heppenheim zur Verfügung. Es braucht heute einige Phantasie, sich diese Verhältnisse vorzustellen.

 

Die Enge, das erzwungene Zusammenleben mit fremden Menschen, die man sich nicht mal als Mitbewohner aussuchen konnte, die gemeinsame Küchenbenutzung – das waren für alle Beteiligten schwer erträgliche Zustände. Kein Wunder, dass das Wohnungsamt mit Beschwerden und Veränderungswünschen geradezu überschüttet wurde. Etwa 25 Personen pro Sprechtag nennt der Verwaltungsbericht für 1947. Doch alle Bemühungen der dortigen Mitarbeiter konnten fehlende Wohnungen nicht ersetzen. Es musste gebaut werden, möglichst viel und möglichst schnell.

 

Das ließ sich nicht allein mit individuell geplanten Häusern realisieren. Es gab verschiedene Haustypen, die zur Auswahl standen. Etwa den „Typ R 2“, ein Doppelhaus mit vier Wohnungen, jeweils 2 Zimmer, Küche und Bad. Die Wohnflächen lagen bei 45,9 bzw. 33,9 Quadratmetern. Schon 1946 begann die Stadt im Bachermark mit dem Bau von fünf solchen Doppelhäusern. Doch das Vorhaben kam nicht gut voran. Es fehlte an Baumaterialien ebenso wie an Arbeitskräften. Bis Juni 1949 waren erst drei Häuser mit insgesamt 12 Wohnungen fertig. Das war nicht genug.

 

Es war klar, dass die Stadt alleine nicht genug Wohnraum schaffen konnte. Im Zuge eines Siedlungs-Notbau-Programms wurden deshalb gleichfalls im Bachermark zunächst 42 Bauplätze von jeweils etwa 600 Quadratmetern bereitgestellt. Bauplätze für Siedlungsbau bekam auch die Gemeinnützige Wohnungsbaugenossenschaft. Der Siedlungsbau hatte den Vorteil, dass die Bauherren einen Teil der Arbeiten selbst verrichten konnten, man also nicht auf das knappe Angebot verfügbarer Arbeitskräfte angewiesen war. Gegen die Versorgungsmängel beim Baumaterial konnte die Selbsthilfe allerdings auch wenig ausrichten.

 

Hier gab es 1948 noch eine Verschärfung, die Heppenheim in mehrerlei Hinsicht zu schaffen machte. Am 17. Mai 1948 brannte das Heppenheimer Tonwerk nieder. Das war übel für die Inhaber und die Beschäftigten, die ihren Arbeitsplatz verloren. Schlimm aber auch für die vielen Bauherren überall im Land, die jetzt noch größere Probleme hatten, Ziegel zu bekommen. An einen Wiederaufbau war ohne Hilfe aus öffentlichen Mitteln nicht zu denken. Und das lag auch an der Währungsreform.

 

Die Zahlung der Brandversicherung erfolgte nämlich noch in Reichsmark und war nach der Währungsreform nicht mehr viel wert. Davon ließ sich kein Neubau finanzieren. Nur dank einer Bürgschaft des Landes Hessen konnte der Wiederaufbau (in veränderter Form) angegangen werden. Eine Hilfe, die mancher Bauherr eines Siedlungshäuschens auch hätte brauchen können.

 

Bei der Währungsreform wurden nämlich Löhne und Gehälter, Renten, Mieten und Pachtzinsen im Verhältnis 1:1 umgestellt. Wer vorher 200 Reichsmark im Monat verdient hatte, bekam jetzt also 200 DM. Anders wurde mit den Sparguthaben verfahren. Hier war der Umstellungskurs 100:6,5. Wer etwa für seinen späteren Hausbau 2000 Reichsmark gespart hatte, besaß jetzt nur noch 130 DM. Wer aber ein Grundstück im Wert von 2000 Reichsmark besaß, hatte dieses Abwertungsproblem nicht. Dass im Juni 1948 alle mit dem gleichen „Kopfgeld“ starteten, ist zwar ein oft erzähltes Märchen, aber eben nicht die Wahrheit. Die Währungsreform ging auf Kosten der kleinen Sparer, während die Besitzer von Sachwerten ungeschoren blieben.

 

Zugleich war die Währungsreform der Start in geregelte wirtschaftliche Verhältnisse. Die Schwarzmarkt-Wirtschaft hatte ein Ende. „Die weithin herrschende Not macht die Menschen egoistisch und apathisch“, hatte Bürgermeister Hagen 1946 festgestellt. Von dieser Apathie war in den 50er Jahren nichts mehr zu spüren. Nun begann das deutsche Wirtschaftswunder. Es ging aufwärts.

 

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Die Währungsreform im Juni 1948 und die Gründung der Bundesrepublik Deutschland im Mai 1949 hatten ökonomisch und rechtlich wichtige Voraussetzungen für das spätere deutsche „Wirtschaftswunder“ geschaffen. Aber der Weg dorthin war noch weit. Ein drängendes Problem war nach wie vor die Wohnungsnot. Zur Förderung des privaten Wohnungsbaus konnte die Stadt Bauland bereitstellen. Alleine in der Zeit von 1952 bis 1956 wurden in Heppenheim 375 Bauplätze geschaffen. Das größte Baugebiet war „In der Krone“ mit 103 Bauplätzen. Die dortigen Grundstücke waren bereits zuvor parzelliert worden und wurden von den Eigentümern direkt verkauft. Bei anderen Baugebieten zog man es vor, dass die Stadt zunächst das Gelände erwarb, parzellierte und dann an die Interessenten verkaufte. Das hatte auch den Vorteil, die erforderlichen Tiefbaumaßnahmen der Stadt mit der Planung der privaten Bauherren besser abstimmen zu können. Nach wie vor waren die städtischen Mittel sehr begrenzt, und es war ein Ärgernis, wenn teure Straßen- und Kanalbauten dort vorgenommen wurden, wo nicht zügig auch neue Häuser entstanden.

 

Überhaupt stellte der Nachholbedarf besonders beim Kanalbau ein Problem dar. Nicht nur in den Neubaugebieten war hier einiges zu leisten, um den Bauherren die Kosten für Sickergruben zu ersparen und einen zeitgemäßen hygienischen Standard zu garantieren. Auch das in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts entstandene Stadtgebiet nördlich der Lehrstraße war noch nicht kanalisiert. Das alles war nun nicht mehr mit den eigenen Arbeitskräften zu schaffen wie Ende der 40er Jahre, als eine Kanalbau-Arbeitsgruppe des städtischen Bauhofs sich damit abmühte, wenigstens in Teilen des Neubaugebiets für Entwässerung zu sorgen. Hier musste viel Geld investiert werden.

 

Glücklicherweise hatte die Stadt die Kosten nicht komplett selbst zu tragen. In Wiesbaden regierte seit Dezember 1950 Ministerpräsident Georg August Zinn (SPD), dessen erster „Hessenplan“ 1951 bereits eine starke Förderung von Wohnungsbau und Infrastruktur vorsah. Mit spürbarem Erfolg: Ab 1957 war Hessen wirtschaftlich so stark, dass es beim Länderfinanzausgleich zum Geberland wurde, 1963 hatte es erstmals das höchste Steueraufkommen pro Kopf unter allen Flächenstaaten der Bundesrepublik. Mit Landeszuschüssen konnten die Städte und Gemeinden ihre Infrastruktur modernisieren. Es entstanden überall in Hessen neue Straßen und Brücken, Krankenhäuser und Schulen. Auch in Heppenheim.

 

Mit der gestiegenen Einwohnerzahl war auch die Zahl der Kinder gestiegen. Und das in einer Stadt, die schon zuvor nicht überversorgt war mit Schulräumen. Im Herbst 1951 wurde der erste Schulneubau beschlossen, schon im August 1953 konnte der erste Bauabschnitt der Nibelungenschule bezogen werden. Womit die Not allerdings nur vorübergehend gelindert war, denn nur fünf Jahre später erwies sich der bauliche Zustand der Schloss-Schule als so schlecht, dass das Gebäude geräumt und grundlegend saniert werden musste.

 

Ein deutlich sichtbares Zeichen des zunehmenden Wohlstands wurden die Autos, deren Menge sich schnell zum Problem entwickelte. Die Zahl der in der Heppenheim gemeldeten Kraftfahrzeuge lag 1955 noch bei 818, nur fünf Jahre später war sie mit 1588 fast doppelt so hoch, und bis 1970 wurde die 4000 überschritten. Dafür waren die bestehenden Straßen nicht ausgelegt. Besonders auf den Durchgangsstraßen wie der B 3 wurden Engpässe zum Problem. Umgehungsstraßen waren teuer und unerwünscht, denn mit den Autos glaubte man sich auch Kaufkraft in die Stadt zu holen. Also mussten die Straßen dem Verkehrsaufkommen angepaßt werden. Das ging oft nicht ohne Abriss. Der Posthof an der Ecke Darmstädter- und Friedrichstraße war das markanteste Gebäude, das der Straßenverbreiterung zum Opfer fiel. Doch auch durch den Abbruch des Vorderhauses vom Halben Mond im Jahr 1965 wurde eine Heppenheimer Straßenansicht unwiderruflich verändert. Auch wenn die 1200-Jahr-Feier 1955 vorübergehend die Aufmerksamkeit auf die geschichtlichen Zeugnisse gelenkt hatte: als wertvolles Gut wurden alte Häuser nicht betrachtet. „Auf eines sollten wir in den nächsten Jahren jedoch Wert legen, nämlich, daß unser Stadtbild wirklich etwas betont städtischer wird“, heißt es im Magistratsbericht von 1960. Wie das zu verstehen war, ist heute zu besichtigen.

 

Mit zurückgehender Wohnungsnot stiegen die Anforderungen an den Komfort, und da hatte etwa der Posthof wenig zu bieten. Altbauten ohne Bad und WC innerhalb der Wohnungen gab es in den 60er Jahren noch häufig, doch sie wurden durch Leerstand oder Vermietung an finanzschwache Familien zunehmend als Problem wahrgenommen. Man fürchtete eine „Verslumung“ von Altstadtquartieren. Dagegen ging man, wie in einigen Fachwerkstädten zu sehen ist, auch mit großflächigem Abriss von architektonisch weniger wertvollen Bauten vor. Dass Heppenheim damals nicht zu den Vorreitern der Altstadtsanierung gehörte, dürfte manches heutige Schmuckstück der Altstadt, etwa im „Faulen Viertel“, gerettet haben.

 

Nicht nur für den Wohnungsbau, auch für die Ansiedlung von Gewerbe war es nötig, dass die Stadt sich nach Westen ausdehnen konnte. Keine einfache Sache, denn die dort vorhandenen Feuchtwiesen mussten erst einmal entwässert werden, bevor an eine Bebauung auch nur zu denken war. Hier war Pioniergeist gefragt.

 

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Nicht nur Menschen waren während der Kriegsjahre und der frühen Nachkriegszeit nach Heppenheim umgesiedelt worden, weil in den zerstörten Großstädten kein Platz mehr für sie war. Auch Firmen zog es ins weniger gefährdete Heppenheim, etwa den bekannten Wirtschaftsverlag Hoppenstedt, der zeitweilig im Halben Mond residierte. Mit ihrer insgesamt wenig zukunftsträchtigen Wirtschaftsstruktur um die alten Schwerpunkte Steinindustrie, Zigarrenfabriken und Tonwerk war die Stadt sehr daran interessiert, solche Betriebe in der Stadt zu halten oder neue aus anderen Branchen anzusiedeln. Und dank verkehrsgünstiger Lage war das auch nicht aussichtslos.


Was Heppenheim jedoch fehlte, waren Flächen für die Gewerbeansiedlung. Zwar gab es die etwa 1000 Hektar große Westgemarkung.  Die bestand aber aus Feuchtwiesen, mit denen weder landwirtschaftlich noch als Bauland etwas anzufangen war. Während des Dritten Reiches hatte man Teile davon als Rückhaltebecken bei den periodisch auftretenden Hochwassern der Weschnitz eingerichtet. Damals war auch im Westen der Stadt eine kleine Siedlung entstanden. Obwohl man die Kellerböden nicht tiefer als etwa einen Meter unter Geländeniveau gelegt hatte, stand dort oft knietief das Wasser. Keine guten Voraussetzungen, um hier Bauland zu gewinnen.


„Aber erst am Rande der Existenz wird bekanntlich das Leben interessant. Das gilt auch für die Gemeinden." Der das rückblickend schrieb, Wilhelm Metzendorf, wurde 1954 zum Bürgermeister der Kreisstadt gewählt und sah in der Überwindung der Heppenheimer Wachstumsgrenzen eine ganz besondere Herausforderung. Dass er dabei, wie eine historische Abhandlung von Ferdinand Koob erkennen ließ, seit Jahrhunderten bestehende Probleme anpacken musste, dürfte den Ehrgeiz des Heppenheimer Juristen nur zusätzlich angestachelt haben.


Dabei waren die politischen Probleme kaum geringer als die technischen; schließlich waren nicht nur mehrere Gemeinden mit unterschiedlicher Interessenlage, sondern neben Hessen auch noch ein zweites Bundesland, Baden-Württemberg, betroffen. Dass es Bürgermeister Metzendorf und Landrat Dr. Lommel gelang, für die Heppenheimer Interessen auch auf höherer Ebene Gehör zu finden (und das zeitgemäß noch ganz ohne PR-Berater), wurde auch durch die unmittelbare Anschaulichkeit von drei katastrophalen Weschnitz-Hochwassern in den Jahren 1954 bis 1956 befördert.


In die Weschnitz-Regulierung wurden zur Beseitigung der Hochwasser-Gefahr nach 1954 insgesamt 25 Millionen DM investiert, in die Entwässerung der Heppenheimer Westgemarkung zur Senkung des Grundwasserspiegels weitere 8 Millionen DM. Die ersten Ergebnisse ließen nicht lange auf sich warten: 1958 erwarb die Firma Langnese im Westen der Stadt 9,6 Hektar Land zum Preis von 0,80 DM pro Quadratmeter. Mit Investitionen in Höhe von 27 Millionen DM entstand dort bis 1960 Europas modernste Speiseeisfabrik, in der bald mehr als 500 Menschen Beschäftigung fanden. Während der Hochsaison wurden damals täglich 25-30 Tonnen Butter, 30-40 Tonnen Zucker, 100 Tonnen Milch und etwa 20 Tonnen Erdbeeren verarbeitet. Der Speiseeis-Konsum der Deutschen stieg, und die Heppenheimer Gewerbesteuer-Einnahmen stiegen mit.


Einen idealen Baugrund hatte man im Heppenheimer Westen nach wie vor nicht. Für den Bau der 1960 eingeweihten Dreikönigskirche an der Mozartstraße wurden mehr als hundert Betonpfähle durchschnittlich 7,50 Meter tief in den Boden gerammt, um dem stattlichen Bauwerk ein tragfähiges Fundament zu geben. Und bis auf den heutigen Tag haben Hauseigentümer mit den Tücken des mal zu tief absackenden, mal zu hoch steigenden Grundwasserspiegels zu kämpfen. Die von Wilhelm Metzendorf angestrebte Ausdehnung Heppenheims nach Westen fand jedoch statt, aus Feuchtwiesen wurden Bauplätze.


Eine Grenze anderer Art, die gleichfalls überwunden werden musste, bildete die Bahnlinie. Die 1846 eröffnete Strecke der Main-Neckar-Bahn war eine viel befahrene Nord-Süd-Verbindung, weshalb die Schranken der Bahnübergänge Lorscher- und Mozartstraße häufig geschlossen waren. Mit zunehmendem Autoverkehr wurden die Warteschlangen länger und länger. Da musste dringend etwas geschehen.


Der Bau von zwei Unterführungen war nicht billig, aber eine andere Lösung gab es nicht. Im September 1960 konnte die Unterführung in der Mozartstraße dem Verkehr übergeben werden, im Mai 1962 die in der Lorscher Straße. Baukosten: 700.000 bzw. 4,3 Millionen DM. "Die Stadt hat zur Finanzierung (...) bis zum Weißbluten beigetragen", wie der Verwaltungsbericht 1964 dazu anmerkt.


Eine weitere Heppenheimer Ost-West-Verbindung, die mit Entstehung der Weststadt und des Gewerbegebiets Tiergartenstraße erheblich an Bedeutung gewann, bildete die Straße nach Lampertheim. Nach hartnäckigen Bemühungen des Bürgermeisters übernahm das Land Hessen diese Straße 1963 als Landesstraße 3398, kümmerte sich aber nicht so energisch um den Ausbau, wie man es im Heppenheimer Rathaus wünschte. An einem Mangel penetranter Ermahnungen durch Wilhelm Metzendorf dürfte es nicht gelegen haben. Die spätere Umbenennung des Heppenheimer Teils dieser Straße in "Bürgermeister-Metzendorf-Straße" hat jedenfalls größere Berechtigung, als das üblicherweise bei der Namensgebung für Straßen der Fall ist.

 

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Zu den landespolitischen Grossprojekten gehörte Ende der 60er und Anfang der 70er Jahre in allen westdeutschen Bundesländern die kommunale Gebietsreform. Das Modernisieren von Verwaltungsstrukturen gehört zu den edelsten Künsten, in denen Politiker sich bewähren können. Oder sich viel Ärger einhandeln. Denn selbst wenn der angestrebte Nutzen erreicht wird, ist er noch längst nicht für den Einzelnen erfahrbar. Und zu allem Überfluss hat man es auf der kommunalen Ebene mit lokalen Besonderheiten und Traditionen zu tun, die auch durch noch so erfreuliche Effizienzsteigerungen nicht einfach unbedeutend werden.

 

Um da den größten Ärger zu vermeiden, ließ man in einigen Bundesländern auch kleine Gemeinden dem Namen nach bestehen, schuf aber mit „Verbandsgemeinden“, „Samtgemeinden“ usw. (die Bezeichnungen sind von Land zu Land unterschiedlich) eine neue Verwaltungsebene, der die wichtigsten Kompetenzen übertragen wurden. Nicht so in Hessen, Nordrhein-Westfalen und dem Saarland. Hier setzte man auf die Bildung von Großgemeinden; aus kleineren Gemeinden sollten Ortsteile werden.

 

Verständlicherweise war die Neigung zum Aufgeben der Selbständigkeit in den Dörfern unterschiedlich stark ausgeprägt; nicht zuletzt abhängig von der finanziellen Situation. Um hier einen Anreiz zum freiwilligen Zusammenschluss von Gemeinden zu bieten, wurden finanzielle Zuweisungen des Landes in Aussicht gestellt, durch die Investitionen in die gemeindliche Infrastruktur ermöglicht wurden.

 

Heppenheims Bürgermeister Metzendorf war an einem möglichst kräftigen Zuwachs für die Kreisstadt interessiert. Auch um im Wettbewerb mit Bensheim, wo man ja wieder einmal Ambitionen auf den Sitz der Kreisverwaltung entwickeln konnte, nicht weiter ins Hintertreffen zu geraten. Er war deshalb bereit, in den Verhandlungen mit seinen Amtskollegen aus den zu Heppenheim tendierenden Gemeinden weit reichende Zugeständnisse zu machen. Zu weit reichende in einigen Fällen, wo die Aufsichtsbehörde die Genehmigung einzelner Bestimmungen der Grenzänderungsverträge versagte (und in dieser Haltung auch vom Verwaltungsgericht bestätigt wurde). Das betraf beispielsweise Klauseln, mit denen niedrige Hebesätze bei den Realsteuern (Grund- und Gewerbesteuer) für einen Zeitraum von zehn Jahren festgeschrieben werden sollten. Oder die Gewährung von um 40 Prozent reduzierten Eintrittspreisen im Heppenheimer Schwimmbad für Kinder und Jugendliche aus Mittershausen-Scheuerberg.

 

Was stand denn überhaupt in solchen Verträgen, außer dass eine Gemeinde zu einem angegebenen Datum Teil der Kreisstadt Heppenheim werden sollte? Zunächst wurde festgehalten, was sich nicht ändern sollte. Das Fortbestehen der eigenen Freiwilligen Feuerwehr und die Förderung bestehender Vereine gehörten ebenso in diese Kategorie wie die Ausnahme vom (in Heppenheim geltenden) Schlachthofzwang. Vertraglich geregelt wurde auch die Übernahme von Dienstkräften, die zukünftig in der Stadtverwaltung Heppenheim beschäftigt sein würden. Dass sich dabei niemand schlechter stellen sollte, versteht sich von selbst. Die Ortskenntnis dieser neuen Mitarbeiter wurde andererseits auch dringend benötigt, wenn man ein möglichst reibungsloses Zusammenwachsen von Kernstadt und Ortsteilen erreichen wollte.

 

Und natürlich wurde vertraglich festgelegt, welche Investitionen die Stadt in ihrem neuen Ortsteil tätigen musste. Mittershausen-Scheuerberg, das schon zum 1. Juli 1971 Teil der Kreisstadt wurde, ließ sich die Anschaffung eines Tanklöschfahrzeugs für die Freiwillige Feuerwehr ebenso garantieren wie den Bau eines neuen Hochbehälters für die Wasserversorgung. Ober-Laudenbach, zu Heppenheim gehörig seit dem 31.12.1971 und schon länger ein Ort mit bemerkenswerter Aufmerksamkeit für die eigene Geschichte, hatte neben dem Sportplatzbau und der Straße zur Juhöhe auch ein Denkmal für die Volksversammlung von 1849 im Investitionsplan vermerkt. Das zum gleichen Termin zur Kreisstadt gekommene Hambach legte Wert auf den Kindergarten und mindestens zwei neue Kinderspielplätze.

 

Die Einrichtung von Verwaltungsstellen, die zumindest an einem Tag pro Woche die Erledigung eines Behördengangs vor Ort ermöglichten, wurde auch in einigen Grenzänderungsverträgen vereinbart. Für Ober-Laudenbach, wo sich die Unterhaltung einer eigenen Verwaltungsstelle nicht rentiert hätte, wurde die Einrichtung einer Telefonnebenstelle der Stadtverwaltung vereinbart, um jedermann kostenlose telefonische Anfragen bei der Verwaltung zu ermöglichen. Damals hatte schließlich noch längst nicht jeder Haushalt ein Telefon.

 

Bis Ende 1971 hatte Heppenheim mit seinen neuen Ortsteilen Hambach, Mittershausen-Scheuerberg und Ober-Laudenbach etwa 2400 Einwohner hinzugewonnen. Erfolglos sollten die Gespräche bleiben, bei denen es um die Juhöhe ging, erfolglos auch die Versuche, Mitlechtern, Erlenbach, Knoden-Schannenbach, Lauten-Weschnitz oder Seidenbuch der Kreisstadt anzugliedern. Nicht immer lag das daran, dass man den Heppenheimern dort die kalte Schulter zeigte. Die Gemeindevertretung von Seidenbuch hatte im Dezember 1970 für Heppenheim votiert, der Kreistag dem im März 1971 zugestimmt. Nur das Hessische Innenministerium war damit nicht zufrieden. Unter freiwilligem Zusammenschluss verstand man dort eher, dass die Gemeinden freiwillig das taten, was das Land für vernünftig hielt und zur Not auch gegen Widerstand durchsetzte. Dagegen half dann nicht einmal die Anrufung des Bundesverfassungsgerichts.

 

Dass es mit der Freiwilligkeit und der kommunalen Selbstverwaltung auch seine Grenzen hatte, mussten auch die Menschen in Erbach, Igelsbach, Kirschhausen, Sonderbach und Wald-Erlenbach erfahren. Der Streit um die Selbständigkeit von Vierdorf ist ein besonderes Kapitel der jüngsten Geschichte Heppenheims.

 

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Als Landesregierung und Landtag in Hessen die kommunale Gebietsreform auf den Weg gebracht hatten, stellte sich für die Mehrheit der Gemeinden nicht mehr die Frage, ob sie zukünftig noch selbständig existieren würden. Damit war es vorbei. Wenn aber schon die Zusammenlegung mit anderen Gemeinden unvermeidbar war, warum sich nicht unter den Nachbarn die Partner aussuchen, die zu einem passten? Mit dieser sinnvollen Überlegung begann jener Teil der Heppenheim betreffenden Gebietsreform, der 1971 für viel Ärger und Verdruss sorgte: Der Streit um Vierdorf.

 

Mit etwa 1400 Einwohnern war Kirschhausen (einschließlich des zum 1.12.1970 hinzugekommenen Ortsteils Igelsbach) der größte Partner bei diesem Zusammenschluss, zu dem außerdem Erbach (650), Sonderbach (540) und Wald-Erlenbach (480 Einwohner) zählten. Das war überschaubar, und irgendwie gehörten die Gemeinden zur gleichen Größenklasse, ganz im Unterschied zur 17400 Einwohner zählenden Kreisstadt. In Ludwig Marquart, der 1970 als Bürgermeister von Kirschhausen sein Amt angetreten hatte, besaß man zudem einen Verwaltungschef, dem man zutraute, Vierdorf in eine gute Zukunft zu führen. An Heppenheim störte die Vierdorf-Initiatoren nicht nur dessen Größe und anders gelagerte Gewerbestruktur. Man wusste auch recht gut, dass der rasante Aufbau in den vorangegangenen 20 Jahren Schulden hinterlassen hatte. An deren Abzahlung wollte man nicht beteiligt werden. Auch deshalb stimmten die Gemeindevertretungen am 6. und 7. August 1971 für den Zusammenschluss zur Gemeinde Vierdorf.

 

Die Befürworter der Vierdorf-Idee wiesen auch auf den geschichtlichen Vorläufer einer aus den Dörfern Kirschhausen, Erbach, Sonderbach und Wald-Erlenbach gebildeten Gemeinde hin: Von 1752 an hatten die vier Dörfer bereits einmal eine gemeinsame Verwaltung gehabt, erst 1906 wählte man getrennte Gemeinderäte. Gehalten hatte diese Verbindung bis 1962, als Erbach aus dem Verbund ausscherte, am gemeinsamen Vierdorfvermögen (zu dem 180 Hektar Wald und drei Steinbrüche gehörten) aber weiterhin beteiligt blieb. Der Heppenheimer Magistrat unter Vorsitz von Bürgermeister Wilhelm Metzendorf schätzte rhetorische Verweise auf die Geschichte, sofern diese die eigene Position stützten; hier war das natürlich anders. „150 Jahre gemeinsame Verwaltung haben nichts, gar nichts zuwege gebracht, was irgendwie in den kommunalpolitischen Sektor fällt“, hieß es barsch in einer Stellungnahme vom 6. September 1971.

 

Unter Verweis etwa auf gemeinsame Friedhofsnutzung und den Umstand, dass Schüler aus den Vierdorf-Gemeinden Heppenheimer Schulen besuchten, betonte man in der Kreisstadt die bestehenden Verbindungen, rechnete den Vierdörflern die Distanzen Erbach-Kirschhausen und Erbach-Heppenheim vor und stritt darum, ob dabei die „letzten Häuser“ oder „der Beginn der geschlossenen Bebauung“ der sinnvollere Messansatz sei. Der Ton, in dem diese Auseinandersetzung von beiden Seiten geführt wurde, war den späteren Verhandlungen nicht zuträglich. Bürgermeister Wilhelm Metzendorf wies im Zusammenhang mit der Gebietsreform gern darauf hin, dass in keinem Fall die Stadt Heppenheim den ersten Schritt getan habe. Wohl wahr, aber gerade das war verhandlungstechnisch keine Glanzleistung. Die Zusammenschlüsse lagen auch im Heppenheimer Interesse, und man hätte sich nichts vergeben, das deutlich zu zeigen.

 

Nachdem der Kreisausschuss den Vierdorf-Beschluss befürwortend an den Kreistag weitergereicht hatte, wurde erwartet, dass dieser auf seiner Sitzung am 27. September 1971 die Zustimmung geben werde. Wenige Tage vor diesem Termin wurde jedoch bekannt, die SPD-Mehrheitsfraktion werde Vierdorf ablehnen; was dann auch geschah. Mit 33 gegen 22 Stimmen scheiterte die Vorlage im Kreistag, ohne dass die Position der Vierdörfler in der Sitzung Gehör gefunden hätte; es gab nämlich keinen Kreistagsabgeordneten aus den betroffenen Gemeinden. All die Transparente und schwarzen Fahnen, mit denen die Bevölkerung gegen diese Entscheidung protestiert hatte, waren umsonst. Wie konnte es nun weitergehen?

 

Eine gerichtliche Anfechtung des Kreistagsbeschlusses wurde erwogen, versprach aber keinen Erfolg. Man stand unter Zeitdruck. Vor Jahresende ein rechtsgültiges Urteil zu erwirken war unmöglich. Danach drohte, daran ließ Innenminister Hanns-Heinz Bielefeld (FDP) wenig Zweifel, der Zusammenschluss mit Heppenheim per Gesetz – was den Verlust der an die „Freiwilligkeit“ geknüpften Landeszuschüsse bedeutet hätte. Blieb also nur, das Beste aus der üblen Situation zu machen, doch noch mit Heppenheim Grenzänderungsverträge auszuhandeln und diese noch vor Jahresende zu beschließen.

 

Zu den in den Verträgen festgehaltenen Investitionsprojekten gehörte bei Erbach neben dem Anschluss an die Heppenheimer Kläranlage auch der Bau der Mehrzweckhalle; die wurde allerdings unter Verwendung bestehender Rücklagen und mit Eigenleistung Erbacher Bürger realisiert, war also kein „Geschenk“ des Landes Hessen. Für Kirschhausen wurde unter anderem der Umbau der alten Schule zum Bürgerhaus vereinbart, für Sonderbach der Bau eines Feuerwehrgerätehauses.

 

Durch die Gebietsreform reduzierte sich die Zahl der Gemeinden im Kreis Bergstraße von 103 auf 28. Die damals befürchtete Zentralisierung hat sich inzwischen weiter verstärkt, viele Verwaltungsstellen wurden seither geschlossen. In Zeiten, wo man in kleineren Stadtteilen keine Poststelle und kein Lebensmittelgeschäft, keine Zahlstelle der Sparkasse und keine Tankstelle mehr findet, hat man sich auch an den langen Weg zur Stadtverwaltung gewöhnt. Er ist ohnehin immer seltener nötig. Durch den bargeldlosen Zahlungsverkehr und die Möglichkeit, viele Fragen telefonisch oder per E-Mail zu klären, spart man früher unvermeidliche Behördengänge. Und zum Erhalt ihres eigenständigen Charakters, das hat sich deutlich genug gezeigt, brauchen Erbach, Hambach, Igelsbach, Kirschhausen, Mittershausen-Scheuerberg, Ober-Laudenbach, Sonderbach und Wald-Erlenbach kein eigenes Rathaus.