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Die ursprüngliche Fassung dieses Aufsatzes wurde im November 1998 in der Südhessischen Post veröffentlicht. Eine Überarbeitung erfolgte im Herbst 2013.

 

 


 

Heppenheim, 10. November 1938: Die Zerstörung der Synagoge

 

Am 10. November 1938 wurde die in den Jahren 1899 und 1900 am Starkenburgweg erbaute Synagoge durch einen Akt politischer und kultureller Barbarei zerstört. Die Zerstörung der Heppenheimer Synagoge war Teil der reichsweit durchgeführten antijüdischen Ausschreitungen, die auch unter dem Namen „Reichskristallnacht“ in die Geschichtsbücher Eingang gefunden haben. Nachdem der zwei Tage zuvor in Paris von Herschel Grynszpan angeschossene Legationssekretär vom Rath am 9. November 1938 seinen Verletzungen erlegen war, hatte Joseph Goebbels in einer antisemitischen Rede vor hohen Parteifunktionären zu Vergeltungsaktionen aufgerufen. NSDAP und SA organisierten daraufhin im ganzen Land Ausschreitungen, denen sie vergeblich den Anschein spontaner judenfeindlicher Aktionen der Bevölkerung zu geben suchten. Im Deutschen Reich wurden 171 Synagogen zerstört und 7.500 Geschäfte verwüstet. 91 Menschen wurden ermordet, 26.000 in Konzentrationslager eingesperrt, unzählige misshandelt, gedemütigt, terrorisiert.

Grundlage der folgenden Darstellung der Geschehnisse sind vor allem die Beweisaufnahmen im Rahmen mehrerer Strafprozesse, die in den ersten Nachkriegsjahren stattfanden. Zwischen dem November 1938 und den Prozessen lagen etliche Jahre mit vielen traumatischen Erlebnissen; und doch ist die damals erfolgte Rekonstruktion dessen, was am 10. November 1938 in Heppenheim geschehen ist, natürlich verlässlicher als später aufgeschriebene oder erzählte Erinnerungen. Diese methodische Entscheidung erklärt auch Abweichungen von der in Wilhelm Metzendorfs Buch „Geschichte und Geschicke der Heppenheimer Juden“ gegebenen Darstellung.

 

Die Ereignisse des 10.11.1938

Am Morgen des 10. November 1938, zwischen 4 und 5 Uhr, erhielt der Wachhabende der Heppenheimer Polizeistation einen Anruf der NSDAP-Kreisleitung. Man solle den in der Nachbarschaft wohnenden SA-Führer Völker ans Telefon holen. Der 45jährige Schulrektor bekam so am frühen Morgen die Anweisung zur Zerstörung der Synagoge. Telefonisch verlangte das „Sturmbüro“ daraufhin vom Maschinisten des Elektrizitätswerks, die Stromversorgung abzustellen, was jedoch abgelehnt wurde. Eine Gruppe von SA-Leuten in Zivil wurde im Amtshof mit Kreuzhacken, Schaufeln und Einreißhaken ausgerüstet. Stadtbaumeister Winter, der gegen 7 Uhr einen geschlossenen Trupp SA-Männer zum Amtshof geführt hatte, wies auch städtische Arbeiter an, sich der Gruppe anzuschließen. Der SA-Führer Völker gab dann das Zeichen zum Aufbruch und führte die Männer zur Synagoge. Dort brach man die Tür auf und begann, fünf Löcher in die Mauern zu brechen und dort Sprengsätze anzubringen. Unterdessen sperrten andere SA-Männer die Straße ab und benachrichtigten die Anwohner von der vorgesehenen Sprengung. Etwa 30 bis 40 Personen waren zu diesem Zeitpunkt vor Ort an der Aktion beteiligt. Gegen 8 Uhr erfolgten die Sprengungen, die an dem soliden Bauwerk nur geringe Schäden verursachten.

Größeren Schaden richtete der anschließend gelegte Brand an. In der Synagoge wurden die Bänke aufeinandergeschichtet, auf Anweisung des Stadtbaumeisters auch die Bänke von der Empore heruntergeworfen. Schließlich übergossen die Täter alles mit Petroleum aus einer mitgebrachten Kanne und zündeten es an. In etwa zwei Stunden zerstörte das Feuer den Innenraum der Synagoge und den größten Teil des Daches. Um ein Übergreifen des Brandes auf die anliegenden Gebäude verhindern zu können, hatte man einen Schlauchwagen der Feuerwehr bereitgestellt. Unmittelbar neben der Synagoge befand sich in einem Schuppen der Leichenwagen der jüdischen Gemeinde. Die Brandstifter holten den Wagen heraus, zertrümmerten ihn mit Axthieben, übergossen ihn mit Benzin oder Petroleum und steckten ihn an.

Alle diese Vorgänge am Starkenburgweg waren in der Stadt natürlich nicht unbemerkt geblieben. Ein Zeuge gab an, es hätten sich bis 8.30 Uhr etwa 500 Menschen angesammelt, öfter ist von Menschenmengen die Rede, die dem Zerstörungswerk zusahen - viele einfach fassungslos, manche ablehnend, andere billigend. Eine Zeitzeugin, die damals in Heppenheim zur Schule ging, erinnert sich, von ihrem Biologielehrer aufgefordert worden zu sein, nach dem Unterricht die Zerstörung der Synagoge zu betrachten. Sie habe dort in einer großen Menschenmenge gestanden und zugesehen, wie Männer mit Brechstangen die Mauern niederbrachen. Als sie am Nachmittag nochmals die zerstörte Synagoge betrachtete, habe sie auch den Lehrer gesehen, der sich am Einreißen der Gebäudereste beteiligte. „Während einer Turnstunde auf dem Sportplatz sangen wir einen Vers, von dem ich nicht mehr weiß, wer ihn uns beigebracht hat: "Hallo, die Synagoge brennt, das Volk der Juden rennt, und der Rabbiner versammelt seine Diener, um sie zurückzuführen ins gelobte Land.“

Zurück zur Chronologie. Zum Niederlegen der massiven Außenmauern der Synagoge plante die SA eine weitere Sprengung. Inzwischen war jedoch der Leiter des Polizeireferats im Landratsamt, der 32 Jahre alte Regierungsrat Denzer, am Tatort erschienen. Er war an diesem Morgen wegen einer Erkältung zunächst nicht zum Dienst gegangen, dann jedoch telefonisch ins Amt gerufen worden. Von der Gestapo wurde er über die „Judenaktion“ unterrichtet; insbesondere darüber, dass die Polizei nichts unternehmen dürfe. Der Regierungsrat war dann zur Synagoge gegangen, um sich selbst ein Bild von der Sache zu machen. Als Denzer von einem Anwohner mitgeteilt wurde, dass bei den ersten Sprengungen ein Steinbrocken auf dessen Anwesen geschleudert worden sei, untersagte er weiteren Sprengstoffeinsatz. Zum Einreißen der Synagogenmauern sollten statt dessen die jüdischen Männer der Stadt zusammengeholt werden.

Es war eine erniedrigende Jagd, in der die SA nun ihre Opfer zusammensuchte, unter Drohungen aus Verstecken trieb und zu den qualmenden Trümmern der Synagoge brachte. Beschimpfungen und auch Tätlichkeiten durch einzelne SA-Männer sind belegt. Der durch besondere Rohheit hervorgetretene SA-Mann Rodenheber, der sich später auch beim Verwüsten von Wohnungen beteiligte, drückte zwei seiner Opfer mit den Köpfen in eine Wassertonne.

Durch Gewalt dazu gezwungen, arbeiteten die Männer hart daran, die Mauern ihres Gotteshauses niederzureißen - und das alles vor einer Menge von Zuschauern. Der 55jährige Schuhmacher Leopold Goldblum war so verzweifelt, dass er sich unter eine einstürzende Mauer werfen wollte. Ein Schutzmann hielt ihn zurück.

Nachdem die jüdischen Männer Heppenheims gezwungen worden waren, sich an der Zerstörung der Synagoge zu beteiligen, wurden sie zur öffentlichen Verhöhnung durch die Stadt geführt. Das geschah nachmittags etwa zwischen 16 und 17 Uhr. Einer musste mit einer Schelle vorangehen, ein weiterer den Davidstern der Synagoge tragen, andere Reisigbündel. Der Zug führte zum Marktplatz, begleitet von einer „johlenden Menschenmenge“, wie ein Zeuge später aussagte. Auf dem Marktplatz hielt Regierungsrat Denzer eine kurze Ansprache: Die Juden hätten noch nie richtig gearbeitet, was man ihrem Einsatz an der Synagoge angesehen habe, ihr Nachtlager werde Stroh sein. Über ihr weiteres Schicksal, drohte der Redner, entscheide man am nächsten Tag.

Die jüdischen Männer wurden dann in den Arrestzellen im Rathaus eingesperrt. Während sie dort in Ungewissheit über die nächste Zukunft saßen, zogen SA-Leute durch die Stadt, drangen in die Wohnungen jüdischer Haushalte ein und führten „Haussuchungen“ durch. Tatsächlich bedeutete das: sie zertrümmerten den Hausrat, ängstigten und verjagten die Bewohnerinnen, die auch vor Tätlichkeiten nicht sicher waren, und zogen dann lachend weiter. Bereits am Vormittag waren die Geschäftsräume des Kaufhauses Mainzer in der Friedrichstraße verwüstet worden. Später wurden die Privaträume der Familie Mainzer von zerstörungswütigen Nazi-Aktivisten heimgesucht, die auch eine Kredenz vom Balkon im zweiten Stock auf die Straße warfen. Ähnliches geschah den Haushalten von Leo Bach (Friedrichstraße), Leopold Goldblum (In der Krone), Koppel David (Lorscher Straße), Leo Hirsch (Kleiner Markt), Maier Oberndorf (Kleiner Markt), Isaak Oberndorf (Starkenburgweg), Maier Sundheimer (Lehrstraße) und Markus Hirsch (Hambacher Tal). In einem Fall wurde der anwesenden Hausfrau ein Ölbild so auf den Kopf geschlagen, dass ihr der Rahmen um den Hals hing.

Längst war der Abend hereingebrochen, als noch „Haussuchungen“ stattfanden und die von den Vorgängen in der Nachbarschaft alarmierten (oder auch bloß neugierigen) Heppenheimer dem Treiben zusahen: etwa 200 bis 300 Menschen sollen gegen 18 Uhr dicht gedrängt in der Friedrichstraße gestanden haben. In der kommenden Nacht wurde auch das Haus der Familie Buber, die zu dieser Zeit bereits in Palästina lebte, heimgesucht. Ein Teil der dort verbliebenen Bücher soll am nächsten Morgen auf der Straße gelegen haben.

Die Abbrucharbeiten an der zerstörten Synagoge dauerten noch mehrere Tage. Die jüdischen Männer aus Heppenheim wurden ins KZ Buchenwald gebracht und dort unterschiedlich lange festgehalten. Der von den Initiatoren der „Judenaktion“ erhoffte propagandistische Erfolg blieb in Heppenheim (wie praktisch überall) aus: selbst viele politisch den Nationalsozialisten nahestehende Menschen betrachteten die Aktionen des 9. und 10. November 1938 als sinnlosen Vandalismus.

 

Gerichtliches Nachspiel

Die Heppenheimer Vorgänge des 10. November 1938 blieben nicht ohne Nachspiel. Sowohl im Rahmen der Spruchkammerverfahren (Entnazifizierung) als auch in regulären Strafprozessen mussten sich etliche Beteiligte verantworten. Die Neigung, eine Mitwirkung an antijüdischen Ausschreitungen als Bagatelle zu behandeln, war in den ersten Nachkriegsjahren gering. In einer Entscheidung der Spruchkammer Bergstraße gegen den SA-Mann Rodenheber heißt es: „Die Beweisaufnahme, in welcher 41 Zeugen gehört wurden, von denen etwa 4 als Entlastungszeugen bewertet werden können, ergab ein erschütterndes Bild menschlicher Rohheit, Gemeinheit und Niedertracht.“ Die Spruchkammer schickte Rodenheber für fünfeinhalb Jahre ins Arbeitslager und gab die Akten an die Staatsanwaltschaft weiter, die in einem Strafprozess eine Verurteilung wegen Landfriedensbruch in Tateinheit mit gemeinschädlicher Sachbeschädigung zu 2 Jahren Gefängnis erwirkte. In zwei Prozessen vor dem Landgericht Darmstadt gegen insgesamt elf Angeklagte stand die Synagogenzerstörung im Mittelpunkt. Der frühere Schulrektor Völker war als Haupttäter bereits am 30. August 1946 verhaftet worden. Im März 1947 verurteilte ihn die II. Strafkammer zu zweieinhalb Jahren Zuchthaus und Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte auf drei Jahre, wobei die Untersuchungshaft nicht auf die zu verbüßende Strafhaft angerechnet wurde. „Bei dem Angeklagten Völker wogen straferhöhend überdies die besondere Intensität seiner Mitwirkung, seine völlige Einsichtslosigkeit und sein Mangel an Reue“, stellten die Richter fest, die sämtlichen Angeklagten als strafmindernd anrechneten, „dass die Tat schon Jahre zurückliegt, dass sich die Angeklagten bisher straffrei geführt haben und dass sie alle nicht aus eigenem Antrieb, sondern auf Anordnung einer verbrecherischen Regierung und unter dem Eindruck einer intensiven hetzerischen Propaganda handelten.“ Dass sich die Ausschreitungen gegen eine Kultstätte friedlicher Mitmenschen richteten und die Taten „dem deutschen Namen in der Welt unabsehbaren Schaden zugefügt haben“, wurde als strafverschärfend gewertet.

Auch Tatbeteiligte, die nur vorübergehend mit Absperrarbeiten betraut gewesen waren, wurden wegen Landfriedensbruchs verurteilt. Die geringste in dieser Sache verhängte Strafe betrug drei Monate Gefängnis. Im Fall des früheren Rektors Völker wurde der Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens zurückgewiesen und auch das Gesuch, gnadenhalber doch die Untersuchungshaft anzurechnen und eine frühere Haftentlassung zu bewirken, blieb erfolglos; lediglich eine bedingte Strafaussetzung für die letzten drei Monate der Zuchthausstrafe wurde beschlossen. Völker wurde am 1.7.1949 auf Bewährung aus der Haft entlassen. Ein späterer Versuch, per Gnadenerlass die Pensionsansprüche zurückzugewinnen, scheiterte.

In den Prozessen hatten die an der Zerstörung der Synagoge beteiligten Arbeiter ihre Tatbeteiligung in der Regel eingestanden und darauf verwiesen, dass sie angesichts der anwesenden Behördenvertreter davon ausgegangen seien, es habe schon alles seine Richtigkeit. Die höheren Chargen spielten die eigene Mitwirkung herunter, räumten zwar ihre durch Zeugen belegte Anwesenheit ein, wollten jedoch keinerlei aktive Rolle bei den Vorgängen übernommen haben.

Auch die Zeugen waren durchaus nicht alle auskunftsfreudig. Ein in der Nachbarschaft der Synagoge lebender Handwerksmeister etwa gab an, er habe sich um die mit der Sprengung und Brandstiftung in Zusammenhang stehenden Maßnahmen nicht kümmern können, da er gerade die Steuerrevision im Betrieb gehabt habe. Ein früherer Gymnasiallehrer, der als SA-Mann an den Tatort geschickt worden war, erklärte, er sei von einer Anwohnerin zu einer Tasse Kaffee eingeladen worden und danach dann zur Schule gegangen. Dass die Tür der Synagoge eingeschlagen worden sei, habe er gehört aber nicht gesehen, weswegen er über die daran Beteiligten nichts sagen könne. Trotz der Schwierigkeiten bei der Beweisaufnahme gelang es der Justiz, die Vorgänge vom 10.11.1938 in erstaunlicher Genauigkeit aufzuklären.