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Martin Buber in Heppenheim

 

Der nachstehende Text beruht auf einem am 3. November 1999 im Martin-Buber-Haus gehaltenen Vortrag. Er wurde im März 2009 überarbeitet und ist als Einführung ins Thema "Buber und Heppenheim" wohl ganz brauchbar.

 

Zum Anfang eine Anekdote, Zitat aus einem Brief des Verlegers Lambert Schneider an Martin Buber vom 5.2.1964:  „Als ich vor beinahe 40 Jahren in Heppenheim am Bahnhof beim Abgeben meiner Fahrkarte den Beamten fragte, ob er mir sagen könne, wo Sie wohnen, antwortete er: Buber, Prof. Buber, ist das der kleine Mann mit dem Bart, der denkt, wenn er geht? Nun ja, sagte ich, das wird er wohl sein - aber wieso denkt er denn, wenn er geht? Ja, der liest doch immer, wenn er daherkommt, und auf dem Bahnsteig, wenn er auf den Zug wartet, auch. Der liest doch immer!“[1] 

Da haben wir gleich das Bild: von dem immer lesenden oder mit seinen Gedanken beschäftigten Buber, klein und bärtig, der offenbar häufig mit der Bahn unterwegs ist und auch dann immer mit lesen und denken beschäftigt, was doch wohl ausschließt, zugleich der unmittelbaren Umwelt größere Aufmerksamkeit zu schenken.

Zugleich haben wir hier ein kleines und harmloses Beispiel dafür, wie Erinnerung immer konstruiert ist. Erinnern ist ein aktiver Prozeß, denn das menschliche Hirn ist kein magnetischer oder optischer Datenträger, aus dem einmal Gespeichertes einfach abrufbar wäre, und beim Rekonstruieren des Gewesenen spielen spätere Eindrücke immer mit hinein. Hier zeigt sich das, eigentlich ganz nebensächlich, an dem Titel „Professor“. Lambert Schneider berichtet über ein Geschehnis von 1925, und da war Martin Buber noch der Herr Doktor und nicht der Herr Professor Buber.

Gerade wenn wir uns mit den ersten Jahren der Familie Buber in Heppenheim beschäftigen, müssen wir deshalb versuchen, nicht immer an den großen alten Mann zu denken, der 1953 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels entgegennahm, sondern an den kleinen, bärtigen Intellektuellen, der lesend am Heppenheimer Bahnhof auf den Zug wartet.

Achtunddreißig Jahre alt war Martin Buber, als er 1916 nach Heppenheim zog, seine Frau Paula ein Jahr älter, die Kinder 16 (Rafael) bzw. 15 (Eva) Jahre alt. Das Ehepaar Buber: er promovierter Philosoph, sie studierte Germanistin, beide schriftstellerisch tätig. Juden (auch wenn Paula Buber katholisch gewesen war), Ausländer (erst 1921 erfolgte die „Aufnahme in den hessischen Staatsverband“), Großstädter (vorheriger Wohnort: Berlin-Zehlendorf) - man muß sich das klar machen, um die Distanz zu verstehen, die immer wieder deutlich wird zwischen Martin Buber, dem Heppenheimer Bürger, und seinen Nachbarn, seinem Umfeld.

Martin Buber war zu diesem Zeitpunkt bereits eine Berühmtheit – aber natürlich nur für das interessierte Publikum, nicht für den durchschnittlichen Zeitungsleser, und schon gar nicht für die Masse der Nichtleser. Sein bis dahin wohl erfolgreichstes Buch, die „Geschichten des Rabbi Nachman“, 1906 erstmals aufgelegt, erschien 1918 in der vierten Auflage. Das waren das 6. bis 8. Tausend. Paula Buber war, wie wir inzwischen wissen [2], als nichtgenannte Mitverfasserin an dem Werk beteiligt gewesen. Ihre eigenen Bücher erschienen unter dem Pseudonym Georg Munk, das Erstlingswerk „Die unechten Kinder Adams“ im Jahr 1912. Ihr erster Roman, „Irregang“, kam im Umzugsjahr 1916 heraus und erreichte bis 1921 eine Auflage von 7000 Exemplaren. Mit der Erwähnung der Auflagenhöhe (und dem demonstrativen Bücherstapel) will ich dem falschen Eindruck vorbeugen, die Schriftstellerei Paula Bubers könne man getrost als unbedeutendes Hausfrauen-Hobby vernachlässigen.

Was zog nun die Bubers nach Heppenheim und/oder was vertrieb sie aus Berlin? Rafael Buber hat darüber berichtet:

Meine Eltern lebten mit uns Kindern [...] vom Jahre 1906 bis 1916 in Berlin-Zehlendorf in einer Mietwohnung, in einem Haus von sechs - wenn man die Souterrainwohnungen dazurechnet: acht - Wohnungen mit Garten. Wir hatten, glaube ich, vier kleine Beete, auf denen wir Kinder Gemüse zogen und es gegen ein entsprechendes Taschengeld an die Mutter verkauften. Das Leben in Berlin war für unsere Familie ein sehr unruhiges. Mein Vater leitete den Jüdischen Verlag, war später Lektor bei Rütten & Loeni[n]g und hatte ständig Besprechungen mit Schriftstellern und Literaten, die im Hause Buber ein- und ausgingen. [...] Die Eltern fuhren ins Theater, in die Oper, zu irgendwelchen Veranstaltungen, wir Kinder waren mehr oder weniger einer jungen Italienerin anvertraut, die meine Eltern im Jahre 1905 aus Italien mitgebracht hatten, wo wir ein Jahr lang gelebt hatten. Deshalb suchten sie Ende 1915 ein Haus, in dem sie mit der Natur mehr Verbindung hatten. Ich muß dazu sagen, daß meine Mutter, eine geborene Münchnerin, starke Bindungen zu Bergen und Dörfern und dem Leben dort hatte. [...] Im Jahre 1915 war mein Vater sehr erholungsbedürftig, und es ergab sich, daß er nach Lindenfels im Odenwald zur Erholung fuhr. Dort entstand die Liebe zu der Gegend, zur Bergstraße, zum Odenwald. Paula Buber kam auch dorthin und beide suchten mit Hilfe von Bekannten und Freunden aus der Odenwaldschule ein geeignetes Objekt.[3]

Man suchte also nach zehn Jahren hektischen Großstadtlebens einen ruhigeren Platz zum Leben und Arbeiten, mit der Möglichkeit der Entspannung. Martin Bubers Gesundheit war öfter angegriffen, immer wieder erwähnt er in Briefen Erkrankungen, die ihn am Schreiben gehindert hätten, und einiges waren nervöse Leiden. Aber allzu weit entfernt von großstädtischem Leben wollte man auch nicht sein, und besonders Heidelberg hatte für die Bubers große Attraktivität.

Heppenheim, damals ein Städtchen von etwa 7000 Einwohnern, war einer der Orte, die sich Interessenten wie der Familie Buber regelrecht anboten. So waren am Maiberg und westlich der Ludwigstraße (im sogenannten Kaiserstraßenviertel [4]) Villen und Landhäuser entstanden, die zum Teil den zahlungskräftigen Käufern schlüsselfertig angeboten wurden. In einer 1913 vom damaligen Besitzer des Halben Monds herausgegebenen Broschüre heißt es:

„Es muß in löblicher Weise hervorgehoben werden, daß die Stadtverwaltung den Zuziehenden, sei es solchen, die Landhäuser erwerben, oder solchen, die selbst bauen wollen, in weitgehendstem Maße entgegenkommt und alle Wünsche möglichst berücksichtigt. Um allen Spekulationen vorzubeugen, erwirbt die Stadtverwaltung meistens das in den Ortsbauplan fallende Gelände selbst und gibt es an Landhausliebhaber zum Selbstkostenpreis ab." [5]

Die Familie Buber zog in keine der neuerbauten Villen sondern in das um 1868/69 für den Kreisarzt Dr. Scotti erbaute Gebäude, zu dem damals ein mehr als 1200 m² großer Garten gehörte. Das Anwesen wurde zunächst gemietet und ein paar Jahre später gekauft.

Zu den möglichen Motiven des Umzugs, die in Heppenheim manchmal genannt werden, gehört auch die bessere Versorgungslage. Man befand sich mitten im Weltkrieg, im Ersten, und die Versorgungslage der Bevölkerung war aus den bekannten Gründen damals ziemlich miserabel, das heißt: schlechter als später im Zweiten Weltkrieg, von dessen andersgearteten Nöten wir eine deutlichere Vorstellung haben.

Die Situation der Bubers im ländlichen Heppenheim war also längst nicht so gut, wie man vielleicht annehmen könnte. Ganz illustrativ ist da der Briefwechsel Bubers mit seinem engsten Freund Gustav Landauer. Der lebte im Februar 1917 in Hermsdorf bei Berlin und hatte in einem Brief an Buber geschrieben:

 „Nebenbei gefragt: gibt es bei Ihnen noch irgendwelchen Kohl, Zwiebeln, Zwieback oder Cakes, echten Tee zu kaufen?“ (3.2.1917)[6]

Martin Buber antwortete zwei Tage später:

 „Kohl gibt es hier augenblicklich nicht, es soll aber nach der Frostperiode welchen geben, den wir Ihnen dann schicken wollen, voraussichtlich zusammen mit etwas Zwiebeln, die auch momentan fehlen, uns aber für eine nahe Zukunft versprochen sind; es soll dann eine 5 Kilo-Schachtel daraus gepackt werden, im Korb zu senden ist nicht möglich, da Gemüseausfuhr hier verboten ist. Zwieback gibt es nur auf Brotkarten; wegen Cakes haben wir heut vergebens Umfrage gehalten. Echten Tee gibt es schon längst nicht mehr; meine Frau hat doch noch eine leise Hoffnung, unterirdisch welchen für Sie zu bekommen - gelingt es, so verständige ich Sie gleich." [7]

 Die nächste Nachricht schickt Buber weitere sechs Tage später, am 11. Februar 1917:

„Lieber Landauer -

Unsere Suche nach Kohl war vergebens. Es verhält sich damit so, dass Weiss- und Rotkohl schon seit dem Herbst nicht mehr im Handel sind, die Haushaltungen versorgen sich hier auch in Friedenszeiten schon im Oktober für den ganzen Winter; und Grünkohl, den man noch vor kurzem bekommen konnte, ist jetzt eingefroren und wird anscheinend nicht mehr in den Handel kommen. Dagegen besteht Aussicht, ein kleines Quantum Zwiebeln zu bekommen. Tee ist nirgends und auf keine Weise aufzutreiben."  [8] 

Und schließlich einen Tag später die Erfolgsmeldung:

„Lieber Landauer -

Die Zwiebel-Expedition hat ein günstiges Ergebnis gehabt; sobald die augenblicklich bestehende Paketsperre aufgehoben ist, geht ein 5 Kilo-Paket an Sie ab." [9]

Diese Briefe lassen einen ahnen, daß auch der gutbürgerliche Haushalt der Familie Buber mit erheblichen Einschränkungen fertigwerden mußte, denn auch im ländlichen Heppenheim war zeitweise nicht einmal Kohl zu bekommen - zumindest für Zugezogene ohne gute Beziehungen. Daß die lokale Zeitung, das „Verordnungs- und Anzeigeblatt“, am 15. Februar 1917 eine lange Reihe von „Erdkohlraben- und Kohlrübengerichten“ veröffentlichte, ist auch ein deutliches Zeichen. [10]

Der Krieg verursachte natürlich auch für die Familie Buber noch weitaus größere Sorgen: Rafael wurde Anfang 1918 eingezogen und diente bis Kriegsende als Soldat in der österreichischen Armee.

„Dem Zuziehenden fällt es auch nicht schwer, wenn er es wünscht, einen ihm zusagenden größeren oder kleineren Kreis von Freunden und Bekannten zu finden, denn bei der großen Anzahl von Villenbewohnern findet wohl ein jeder den ihm passenden Verkehr. Wer jedoch wünscht für sich zu leben, ist durch nichts zum gesellschaftlichen Verkehr gezwungen." [11]

So der bereits einmal zitierte Heppenheim-Führer. Ganz so einfach war das mit dem gesellschaftlichen Verkehr im Hause Buber nicht. Den gab es durchaus, Paula und Martin Buber lebten nicht „für sich“, aber die Heppenheimer Villenbewohner spielten in der Werlestraße 2 keine große Rolle. Zum einen pflegte man die Begegnung mit Freunden, die nicht in Heppenheim oder Umgebung lebten, wie beispielsweise Gustav Landauer, der bereits recht kurze Zeit nach dem Einzug der Bubers, im Mai 1916, in ihrem neuen Heim zu Gast war.[12] Zum anderen hatte man ein paar wenige Kontakte in Heppenheim, besonders zur Familie von Dr. Fritz Frank, der auch Bubers Hausarzt war. Auch zu mehreren Lehrern der Odenwaldschule unterhielt Martin Buber ein gutnachbarliches Verhältnis, wobei Paul Geheeb nach meinem bisherigen Eindruck für Buber nicht der wichtigste war. Spätestens im Zusammenhang mit der Konferenz zur Erneuerung des Bildungswesens, die 1919 auf Bubers Initiative in Heppenheim stattfand, kam es zu einer engeren Zusammenarbeit mit Otto Erdmann und Theodor Spira, und letzterer wurde wohl ein Freund der Familie.

Der Anglist Theodor Spira, 1885 in Worms geboren, verließ bald die Odenwaldschule, um sich 1922 in Gießen zu habilitieren. 1925 wurde er Professor in Königsberg. Wie die Fragmente des Briefwechsels zeigen, verkehrte Spira spätestens seit Januar 1921 mit Martin Buber per Du, und es war ein wirklich sehr kleiner und erlesener Kreis von Menschen, mit denen Buber sich duzte. In einem Brief an Franz Rosenzweig [13] vom 14. Mai 1925 bat Martin Buber:

”Wenn Sie vielleicht einen ‘Stern’ übrig haben, so schicken Sie ihn bitte an Dr. Theodor Spira, Giessen, Ludwigstr. 19 - seit wir Rang nicht mehr haben, die tiefste Christennatur unseres Kreises.”

Der in Heppenheim geknüpfte Kontakt zu Theodor Spira überstand auch die Distanz, die Spiras Umzug nach Ostpreußen mit sich brachte, und das Dritte Reich. Theodor Spira war nach Kriegsende Professor in Frankfurt am Main, wo er das Institut für Amerikastudien gründete, und zeitweilig im Hessischen Kultusministerium tätig. Seine Verbindung zu Buber ist meines Wissens noch nirgends auch nur ausführlicher erwähnt worden.

Keinen sehr ausgedehnten Kontakt hatte die Familie Buber zur jüdischen Kultusgemeinde Heppenheims. Für orthodoxe Juden war die Bubersche Art, als Jude zu leben, schwer akzeptabel. Martin Buber ging selbst an hohen Feiertagen selten zur Synagoge, in seinem Haus wurde nicht koscher gegessen, seine Frau soll sogar an einem Kettchen ein Kreuz getragen haben [14], und der Hausputz in der Werlestraße 2 wurde auch mal am Samstag [15], am Sabbat, gemacht.

Aus der Perspektive der Familie Buber sah das natürlich anders aus: Bubers Enkelin Judith, die ab 1929 hier bei den Großeltern lebte, berichtete von Sabbatmahl, Anzünden der Kerzen und anschließendem Vorlesen durch den Großvater, also einem rituellen Feiern des Sabbat, zu dem freilich der Gang in die Synagoge nicht gehörte. Zu besonderen (und besonders seltenen) Anlässen sprach Martin Buber auch in der Heppenheimer Synagoge, so im April 1933. [16]

Den 50. Geburtstag Martin Bubers, 1928, feierte die jüdische Gemeinde Heppenheims mit einem Konzert. Unter Leitung von Dr. Fritz Frank führte ein Kinderorchester die Kindersymphonie von Haydn auf. [17]

Wie regelmäßig die Heppenheimer Juden allgemein die Synagoge besuchten, ist nicht sicher.

Moritz Spitzer, 1932 vom Schocken-Verlag bezahlter Mitarbeiter Martin Bubers in Heppenheim, erinnerte sich, daß an Jom Kippur 1932 in der Heppenheimer Synagoge nicht die erforderlichen 10 Männer zusammengekommen waren, um mit dem gemeinsamen Gebet beginnen zu können. Man habe nichtjüdische Passanten in die Synagoge gebeten, um den Minjan zu erreichen.[18] Ich habe diese Aussage einem anderen früheren Mitglied der jüdischen Gemeinde Heppenheims mitgeteilt; Herr Erwin Goldschmidt bezeichnet sie als „unwahr und reine Erfindung"[19]. Das ist das Problem mit Erinnerungen: sie können falsch sein. Ich will hier keine Interpretation dieses Widerspruchs versuchen, oder versuchen zu entscheiden, wer sich nun geirrt hat, sondern die Aussagen einfach so stehen lassen.

Nicht unterschlagen werden soll, daß Martin Buber in Heppenheim zumindest eine Anhängerin hatte, die ihn als den erfreulicherweise in der Nachbarschaft wohnenden Guru verehrte. Das klang brieflich dann so:

”Verehrter Meister!” ... ”Von Ihrem Hause zu mir fließt ein Strom von Segen. Er fließe zu Ihrem Hause zurück u. verzehnfache sich." [20]

Es ist keine Frage, daß die Autorin dieser Huldigung keine Vertraute der Familie Buber war, aber sie gehörte zu jenen, die Martin Buber – brieflich oder persönlich – um Rat und Unterstützung in persönlichen Dingen baten, und es gehört zur Größe des Menschen Martin Buber, daß er sich solchen Anforderungen nicht verweigert, sich nicht vorenthalten hat. Wie der Judaist Jochanan Bloch, der Buber später in Jerusalem kennenlernte, in einem Interview formulierte:„Nein, Buber war kein Erzieher. Er war ein guter Mensch, der bereit war zu helfen."[21]Und manchen half er dadurch, daß er sie zu einem Gespräch in dieses Haus einlud.

Viele Besucher erlebten in diesem Haus nicht nur die Dialogbereitschaft des Hausherrn sondern auch die Qualitäten Paula Bubers als Gastgeberin. Daß sie ihre schriftstellerische Arbeit ernsthaft betrieb bedeutete nämlich nicht, daß ihr die Leitung des Haushalts unwichtig gewesen wäre. Im Gegenteil. Die Dienstmädchen, Köchinnen, Büglerinnen usw., die zeitweilig im Buberschen Haushalt tätig waren, hatten in ihr sicher eine anspruchsvolle und nicht ganz einfache Chefin mit einem Hang zum Perfektionismus. Wobei höchstes Gebot immer blieb, daß der Haushalt einen angemessenen Rahmen für die ungestörte Arbeit des Hausherrn zu bieten hatte.

Bei einem Besuch Franz Rosenzweigs hier bei Martin Buber in Heppenheim war im Dezember 1921 die Lehrtätigkeit Bubers am Freien Jüdischen Lehrhaus in Frankfurt am Main vereinbart worden, und auch bei der Erteilung des Lehrauftrags an der Frankfurter Universität Ende 1923 hatte Franz Rosenzweigs Einfluß gewirkt. Als 1925 dann der Verleger Lambert Schneider nach Heppenheim kam, um Martin Buber für das Projekt einer Neuübersetzung der Hebräischen Bibel zu gewinnen, machte Buber die Mitwirkung Rosenzweigs zur Bedingung seiner Zusage. Ich schreibe: der Verleger Lambert Schneider, aber ich hätte auch schreiben können: der 25jährige Lambert Schneider, der beschlossen hatte, Verleger zu werden, und der sich mit Enthusiasmus in dieses kaufmännisch betrachtet ziemlich irrwitzige Großprojekt stürzte. Zunächst ging alles unglaublich schnell: am 6. Mai 1925 hatte Lambert Schneider erstmals an Buber geschrieben, kurz darauf war er nach Heppenheim gekommen, am 21. September beendeten Buber und Rosenzweig die Arbeit am Buch „Im Anfang“, und im Dezember erschien dieser erste Band im Buchhandel.

Um diese gemeinsame Arbeit angemessen würdigen zu können, muß man sich vergegenwärtigen, daß Franz Rosenzweig zu diesem Zeitpunkt bereits sehr weitgehend gelähmt war. Sein Besuch in Heppenheim einige Jahre zuvor war sein letzter Spaziergang gewesen [22], inzwischen war er unfähig zu sprechen. Lambert Schneider schilderte eine Begegnung mit Franz Rosenzweig so:

 „Damals schon war er völlig gelähmt und konnte auch nicht mehr sprechen – er war an einer unerbittlichen Lateralsklerose erkrankt und wußte um seinen baldigen Tod. Trotzdem hatte er den Mut, sich mit Buber an die Bibelübersetzung zu wagen, und er arbeitete daran mit einer Intensität, die rational nicht zu begreifen ist. Der gelähmte Mann saß in einem Krankenstuhl, der Kopf wurde durch eine Schlinge hochgehalten, die an einem Galgen über dem Stuhl hing. Auch der rechte Arm hing in einer solchen Schlinge und gestattete ihm auf einer Buchstabentafel Buchstabe für Buchstabe anzuzeigen, um seine Sätze zu formulieren. So arbeitete er Tag um Tag viele Stunden. Sich abwechselnd übertrugen seine Frau Edith und die Frau von Eugen Rosenstock-Huessy dies mühsame Buchstaben-Diktat. Unerbittlich hielt er sie im Dienst. Jedes Gespräch mit Franz Rosenzweig mußte auf die gleiche Weise geführt werden – aber schon nach wenigen Minuten hatte man als Gesprächspartner den grausig-grotesken Anblick vergessen, denn Rosenzweig zwang den Besucher zu äußerster Konzentration. Ohne viel unnütze Worte hatte man in einer halben Stunde mehr gesagt, als mit anderen Menschen in stundenlangen Unterhaltungen. Die wenigen Gespräche mit Franz Rosenzweig gehören für mich zu den schönsten Erlebnissen. Nichts Trauriges, nichts Melancholisches haftet diesen Erinnerungen an, eher das Gegenteil." [23]

Als die Krankheit weiter fortgeschritten war, konnte Franz Rosenzweig auch die Buchstabentafel nicht mehr benutzen. Seine Frau sagte ihm dann das Alphabet auf und er signalisierte mit den Augen, welches der gewünschte Buchstabe war. Auf diese Weise hat er bis zu seinem Tod am 10. Dezember 1929 weitergearbeitet. Martin Buber besuchte ihn üblicherweise einmal wöchentlich, nachdem er seine Lehrverpflichtungen an der Universität erledigt hatte, und ließ ihm seine Übersetzungsentwürfe zuvor schriftlich zugehen.

Es war nicht nur die Krankheit Rosenzweigs, die es unmöglich machte, bei der Übersetzungsarbeit das Tempo zu halten. Martin Buber erhielt vom Verlag (unabhängig vom Erscheinen der Bände) monatliche Zahlungen, um nicht aus finanziellen Gründen anderen Arbeiten den Vorzug geben zu müssen. Im Obergeschoß dieses Hauses, im früheren Zimmer Eva Bubers, war nun die Übersetzungswerkstatt, und Martin Buber, der am späteren Vormittag aufstand und im Schlafzimmer frühstückte, arbeitete dann zunächst oben an der Bibelübersetzung, bevor er sich nachmittags und vor allem abends bis spät in die Nacht im Erdgeschoß-Arbeitszimmer seinen sonstigen Arbeiten widmete. Und natürlich gab es für Martin Buber, der dazu neigte, sich zuviele Verpflichtungen aufzubürden, immer noch andere Arbeiten.

Nicht nur Arbeit, wenn auch sicher keine Vergnügungsreise, war Martin und Paula Bubers erster Besuch Palästinas im Jahr 1927, über den in der Literatur wenig zu lesen und deshalb noch vieles zu recherchieren ist. Paula Buber schrieb am 18. April 1927 ihrer Tochter einen begeisterten Brief aus Jerusalem [24], in dem es heißt:

 „Ich bin inzwischen eine gewaltige Anhängerin Palästinas geworden, des Landes Palästina. Niemand hat mir doch gesagt wie das ist. Wir waren schon viel unterwegs, morgen geht es auf die große Tour. Ich werde ein Jahr zu erzählen haben. [...] Was gibt es hier Blumen und Tiere! Am liebsten sind mir aber fast die Steine Judäas, die Wüste und das tote Meer.”

Die Perspektive, die sich dort aufgetan hatte, ließ sie – zur eigenen Verwunderung – ihre Unzufriedenheit mit der Situation in Heppenheim spüren, wo sie in einem Brief vom 17.8.1929 ihrem Mann schrieb, „daß dies Leben hier mir tatsächlich zu dumpf, zu ärmlich und ungespeist ist" [25].

Es war jedoch die Urlauberperspektive, nicht die des gezwungenen Einwanderers, die hier zum Ausdruck kommt. An dieser Stelle noch etwas Anekdotisches zum Stichwort Urlaub: Martin Buber liebte Bergwanderungen, also führten die Buberschen Urlaubsreisen üblicherweise in die Schweizer Alpen oder die Dolomiten. Judith Buber-Agassi hat berichtet [26], wie dann, wenn die Familie eine Rast einlegte und vor dem herrlichen Bergpanorama die mitgebrachte Brotzeit einnahm, ihr Großvater die Bibel und das Hebräisch-Wörterbuch aus der Tasche zog, um – wie üblich – mit seiner (nach dem Tod Rosenzweigs) wichtigsten Beraterin Fragen der Bibelübersetzung zu erörtern.

Daß die Enkelinnen Barbara und Judith von 1929 an im Haushalt der Großeltern lebten, hatte Paula Buber in einem Sorgerechtsverfahren erstritten, nachdem sich Rafael Buber und seine Frau Margarete getrennt hatten. Es bedeutete nicht, daß die Enkelinnen den Kontakt zu ihrer Mutter verlieren sollten. Margarete Buber war danach zeitweilig hier im Haus zu Gast und mit ihren Kindern zusammen. Es waren die politischen Verhältnisse, die die Trennung brachten. Als Kommunistin politisch verfolgt, floh Margarete Buber-Neumann 1934 mit falschem Paß in die Schweiz. Von dort schrieb sie unter falschem Namen einen Brief nach Heppenheim, und lud zu einem Treffen in der Schweiz ein. Martin und Paula Buber erkannten natürlich die Handschrift und verstanden, was das zu bedeuten hatte. Sie ließen alles stehen und liegen und reisten für zwei Tage in die Schweiz. Es war für lange Zeit das letzte Zusammensein von Judith und Barbara mit ihrer Mutter. [27]

Der Nationalsozialismus vergiftete auch in Heppenheim die Atmosphäre. 1933 mußte Martin Buber seinen Enkelinnen erklären, was Antisemitismus ist; damit sie wenigstens wußten, warum andere Kinder mit Steinen nach ihnen warfen [28]. Auch er selbst machte Erfahrungen mit dem alltäglichen Antisemitismus.

Werner Kraft notierte aus Gesprächen mit Martin Buber:

 „Buber geht in Heppenheim spazieren. Steht ein Mann da und sagt: ‘Na, du Jud!’ Und Buber: ‘Na, du blöder Kerl!’ Der Mann ist verdattert. Ich bewundere diese Geistesgegenwart." [29]

Es war keine Zeit für wahre Dialoge. Eine erste (?) „Haussuchung“ im März 1933 spielt Buber in einem Brief an Ernst Simon (vom 28.3.1933 [30]) noch herunter (alles habe „sich in durchaus korrekten Formen vollzogen“). Hermann Gerson berichtete später, er sei einen Tag nach einer Haussuchung hier zu Besuch gewesen, über die sich insbesondere Paula Buber sehr aufgeregt habe. Sie habe auch die Eindringlinge angeschrien.[31] Und Oskar Loerke notiert in seinem Tagebuch nach einem Besuch Bubers am 24. März 1935, bei dem auch über die Erfahrungen mit den Anfängen des NS-Staats besprochen wurden: „Dreißig Mann bei Haussuchung."[32] Es ließ sich noch nicht klären, ob mit den hier erwähnten Haussuchungen verschiedene Vorgänge gemeint sind.

Daß im Sommer 1933 der Heppenheimer Bürgermeister Schiffers in einem Vermerk empfahl, die 1921 erfolgte Einbürgerung Martin Bubers zu widerrufen, erfuhr der Betroffene nicht. (Ich habe die Dokumente 1995 in meinem Aufsatz anläßlich des 30. Todestags von Martin Buber veröffentlicht).

Martin Buber jedenfalls engagierte sich für die Auswanderung nach Palästina, auch zum Beispiel bei einem Treffen an der Odenwaldschule, von dem die Schriftstellerin Geno Hartlaub berichtet hat:

”Eine gute Weile später, als es so aussah, als würde die Odenwaldschule weitergehen, weil die neuen Lehrer, die von der Regierung daher geschickt wurden, sagten, es sei alles dort in Ordnung, da war eine Zusammenkunft von jüdischen Kameraden und Martin Buber, der in Heppenheim wohnte und manchmal in die Schule kam und Vorträge hielt. Diese Zusammenkunft war in Paulus’ Wohnung, und ein Freund von mir und ich, wir waren, glaube ich, die einzigen sogenannten Arier, die da miteingeladen waren. Da hielt Buber, das werde ich nie vergessen, eine flammende Rede für den Zionismus, während die ganzen Juden auf der Odenwaldschule, also auch die Cassirers, denen die Schule ja gehörte, sagten, niemals würden sie nach Palästina gehen; sie könnten doch nicht nur unter Juden sein; und es würde alles nicht mehr so schlimm; sie fanden es überhaupt eigentlich gar nicht so schlimm. Sie hatten die deutsche Kultur so verinnerlicht, sie wollten nicht weg." [33]

Ein eher untypisches Erlebnis hatten die Bubers am 1. Mai 1933. Es war ein sehr warmer Tag, die Fenster waren geöffnet, und vom Graben hörte man die Nazi-Ansprachen zum „Tag der nationalen Arbeit“. Unmittelbar nach Ende der Kundgebung meldete das Dienstmädchen, daß ein Besucher Martin Buber sprechen wolle. Buber empfing den jungen Mann im Arbeitszimmer. Der Besucher erklärte, er habe gerade an der Maifeier teilgenommen, weil er als Beamter dazu verpflichtet worden sei, aber es habe ihn geekelt und er könne nicht zu Frau und Kind nach Hause gehen, bevor er dies Martin Buber gesagt habe. Er habe auch den Arm zum Hitlergruß erhoben und fühle sich nun beschmutzt. Deshalb bitte er Martin Buber, ihm die Hand zu reichen und verspreche, sie dann nie mehr zum Hitler-Gruß zu heben. – Martin Buber erfuhr nicht lange danach, daß sein Besucher tatsächlich aus dem Staatsdienst ausgeschieden war. Es war Ludwig Metzger, der spätere Oberbürgermeister von Darmstadt. [34]

Doch solche positiven Erlebnisse waren selten. In einem Brief an Hans Trüb vom 22. Juni 1933 schrieb Martin Buber:

”In Deutschland sieht es nicht gut aus. Zum erstenmal kommt mir der Zweifel, ob ich hierzulande meine Arbeiten werde zu Ende führen können. Die Atmosphäre wirkt destruktiv auf das Atmungsorgan der Seele." [35]

Trotzdem stand nicht die schnellstmögliche Auswanderung für Martin Buber im Vordergrund, vielmehr engagierte er sich mit ganzer Kraft für die Mittelstelle für jüdische Erwachsenen­bildung. Der Auswanderung freilich standen mehrere Probleme entgegen. Eines sprach Martin Buber 1934 in einem Brief an Hermann Gerson an:

”Wenn ich sagte, daß es für mich hinsichtlich Palästinas maßgebend sei, ob ich dort ‘leben und arbeiten’ kann, so meinte ich einfach, ob ich dort ein Gerüst kriege, den geordneten, geregelten, anbefohlenen Tätigkeitskern der Tage, eine ‘Wirtschaft’, einen ‘Beruf’, von dem aus sich das Andere, das Unvorhersehbare, nicht Einzuordnende, Unwillkürliche, Regellose, das ‘Wirken’ ergibt. Und als deutscher Schriftsteller hinübergehn (ich bin ja doch nicht beiläufig, sondern faktisch ein deutscher Schriftsteller), ohne einen an das dortige Volk, das dortige normale Leben, das dortige Bedürfnis, die dortige Wirtschaft gebundenen Beruf, käme mir widernatürlich vor. Verstehen Sie das nicht? Sie wissen doch, was es einem Menschen bedeuten kann, daß es mit ihm ‘natürlich’ zugehe. Wenn ich anders dächte, wäre ich ein Zigeuner; ich bin aber, in einem ewigen Sinn, ein ‘bürgerlicher’ Mensch, ein Sohn und Vater des Gesetzes, frei, aber um mich setzen zu lassen und um zu setzen; als Emigrant, ohne richtige seßhafte ‘bürgerliche’ Verbundenheit, würde ich mich selbst verleugnen." [36]

Dieses Problem löste sich durch die Berufung an die Universität Jerusalem, die er seiner Tochter in einem Brief aus Zürich am 12. September 1935 mitteilte. Es heißt darin:

 „Auf Mutter hat besonders deprimierend eingewirkt, dass bei uns daheim in der zweiten Augusthälfte wüste Demonstrationen veranstaltet worden sind, an denen man sechsjährige Schulkinder beteiligte; diese ganz unspontanen, wie aufgezogenen Kundgebungen wurden dann mit Ende August abgeblasen, aber bei Mutter [...] blieb ein unüberwindlicher Druck zurück, und ich selber spürte, dass es mit dem Beharren nicht mehr lange weiter geht.

Die palästinensische Aufgabe ist ja für mich eine recht schwere, aber ich sehe keinen anderen Weg, als mich ihr zu unterziehen." [37]

Über die erwähnten Demonstrationen schrieb Martin Buber 1939: „Während der Vorbereitung der Nürnberger Gesetze zogen zwei Wochen lang jeden Morgen um sechs Uhr an den Fenstern meines Hauses in Heppenheim Schulkinder vorbei und sangen das schöne Lied: ‚Wenn erst das Judenblut vom Messer spritzt‘; damit war der gegebene Befehl erfüllt. Am Morgen darauf erwarteten wir vergeblich den Aufzug.“[37a] Anders als Martin Buber wissen wir heute, dass die Nürnberger Gesetze keineswegs monate- oder wenigstens wochenlang vorbereitet, sondern am 14. September 1935 von teilweise eilends nach Nürnberg beorderten Regierungsbeamten zu Papier gebracht wurden. Wobei der zuständige Reichsinnenminister Frick sich auf die Botendienste zwischen dem seine Wünsche formulierenden Reichskanzler Hitler (sowie dessen Berater „Reichsärzteführer“ Gerhard Wagner) und seinen Beamten beschränkte.[37b] Doch natürlich bestand ein Zusammenhang zwischen antisemitischen Aktionen und den späteren Gesetzen: Die „Bewegung“ wollte für offizielle antijüdische Maßnahmen Stimmung machen. Martin Buber sah deutlich, dass es sich hier um eine Partei-Inszenierung handelte, doch diese Erkenntnis half auch nicht viel..

Es war mehrerlei, was die Entscheidung zur Übersiedlung nach Palästina für Buber schwer machte. Zum einen waren da natürlich die unmittelbaren Umstände seiner Berufung, das heißt die Festlegung auf die Fächer Soziologie und Sozialphilosophie, weil die Orthodoxen unbedingt verhindern wollten, daß der unorthodoxe Buber Religion lehrt. Zum andern wußte Martin Buber recht gut, wie schwer er sich tat, hebräisch zu sprechen. Er war ja schon lange immer wieder aufgefordert worden, als engagierter Zionist endlich konsequent zu sein und nach Palästina zu ziehen, und er hatte schon am 24. Mai 1926 Gerhard Scholem in einem Brief geschrieben:

 „Ich glaube ja wirklich sagen zu dürfen, daß ich Hebräisch ‘kann’; aber sowie ich einen Gedanken aussprechen will, zerbröckelt er mir im Mund - ich muß immer erst übersetzen, das taugt nichts." [38]

Die Sprachprobleme Paula Bubers, die nicht ständig wenigstens mit dem Althebräischen umging, waren naturgemäß noch größer. Vor der nun aber doch vorzubereitenden Übersiedlung waren zudem die finanziellen Fragen zu regeln, denn bei einer Auswanderung kassierte der deutsche Staat den größten Teil des Vermögens. Und Martin Buber hatte ein besonderes Problem durch die geerbten Vermögenswerte in Polen. Der deutsche Staat verlangte für den Fall der Auswanderung auch für dieses Vermögen „Reichsfluchtsteuer“; die war nicht zu erbringen, zumal eine rasche Liquidierung in Polen nicht möglich war. Es wurde schließlich vereinbart, daß Martin und Paula Buber (im Gegensatz zu den Enkelinnen) mit Hauptwohnsitz in Heppenheim gemeldet blieben. Sie behielten hier auch das eingerichtete Haus und wollten zukünftig den größeren Teil des Jahres in Palästina, den Rest in Deutschland verbringen. Alle Vorbereitungen liefen darauf hinaus, innerhalb eines Jahres zurückzukommen: im Haus wurde umgeräumt, Polstermöbel sollten neu bezogen werden, für das Mohrchen, die Bubersche Katze, wurde über einen Frankfurter Tierschutzverein ein bezahlter Pensionsplatz gesucht, und in Abwesenheit der Familie Buber kümmerten sich Berthold Mainzer und gelegentlich auch die dann wieder in Frankfurt wohnende Alice Heilbrunner um das Haus.

In Heppenheim wird bis auf den heutigen Tag erzählt, die Bubers hätten hier Schulden hinterlassen. Tatsächlich haben sie beispielsweise den Auftrag erteilt, Möbel aufarbeiten zu lassen, der auch, nach mehrmaliger Erinnerung durch Berthold Mainzer, ausgeführt wurde. Nur kam dann der 10. November 1938, und daß Martin und Paula Buber nicht mehr nach Heppenheim zurückkehrten, lag nicht an ihnen.

Daß unmittelbar nach den Novemberpogromen nicht an eine Rückkehr zu denken war, versteht sich von selbst. Im Januar 1939 bat ihn deshalb seine frühere Sekretärin Alice Heilbrunner um ein Zeugnis, da sie nicht damit rechnen konnte, nochmals für Buber tätig zu werden. Sie berichtete der Familie Buber auch über das Ergehen des Mohrchens und über die Erledigungen, die sie zwischenzeitlich getan hatte. Trotz allem wollte Martin Buber im Sommer 1939 noch einmal nach Deutschland kommen. Er fuhr bis in die Schweiz und kehrte von dort nach Palästina zurück. [39]

Das Haus der Bubers wurde samt Grundstück am 28. November 1940 zwangsversteigert und für 19.492 Reichsmark und 20 Pfennige vom Landkreis Bergstraße erworben. Das Inventar inklusive des zurückgebliebenen Teils der Bibliothek – immerhin 3000 Bände – war auch verloren.

Zum siebzigsten Geburtstag gratulierte 1948 brieflich auch die Stadt Heppenheim. Und wie das Verordnungs- und Anzeigeblatt am 23.10.1948 meldete, dankte Martin Buber und gab „dem besonderen Gefühl [s]einer unzerstörten Verbundenheit mit der Stadt Heppenheim“ Ausdruck. Laut Zeitungsbericht kündigte er auch einen Besuch in Heppenheim an. „Seine vielen Freunde in Heppenheim werden diesen Entschluß sehr begrüßen“, meinte die Zeitung. Wer die vielen Freunde gewesen sein sollen, stand natürlich nicht dabei.

Das nächste Buber-Jahr war 1953, besonders für Heppenheim. In Frankfurt am Main wurde Martin Buber der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels verliehen, und im Heidelberger Verlag Lambert Schneider erschien der Roman „Muckensturm“ von Paula Buber alias Georg Munk.

In seiner Friedenspreisrede sprach Martin Buber von den Tätern des Völkermords, mit denen er „die Dimension des menschlichen Daseins nur zum Scheine gemein“ habe. Er sprach ferner von den „sehr vielen, die wußten, daß das Ungeheure geschah, und sich nicht auflehnten“, und schloß an: „aber mein der Schwäche des Menschen kundiges Herz weigert sich, meinen Nächsten deswegen zu verdammen, weil er es nicht über sich vermocht hat, Märtyrer zu werden.“ Er sprach schließlich von jenen, „denen das der deutschen Öffentlichkeit vorenthaltene unbekannt blieb, die aber auch nichts unternahmen, um zu erfahren, welche Wirklichkeit den umlaufenden Gerüchten entsprach“ und schließlich von jenen, „die sich weigerten, den Befehl auszuführen oder weiterzugeben und den Tod erlitten oder ihn sich gaben, oder die erfuhren was geschah und sich dagegen auflehnten und den Tod erlitten, oder die erfuhren was geschah und weil sie nichts dawider unternehmen konnten, sich den Tod gaben." [40]In Martin Bubers großer Rede ging es um die eventuell lebensbedrohlichen Entscheidungen in der Schlußphase dieser Katastrophenentwicklung.

Um die weniger tragischen als zum Teil vor allem peinlichen Verhältnisse in der Anfangsphase dieser Entwicklung, im Jahr der „Machtergreifung“, geht es in „Muckensturm“. Paula Buber hat diesen Roman unmittelbar nach der Auswanderung geschrieben, und sie schildert darin, wie die mehr oder minder ehrenwerten Bürgerinnen und Bürger einer Kleinstadt sich gegenüber dem Dritten Reich verhalten, das von einem Teil herbeigewünscht worden war, über die meisten aber einfach hereingebrochen ist. Da geht es um Tratsch, Intrigen, eifrige Anbiederei und distanziertes Abwarten, auch mehr oder minder stille Opposition, um all das Menschliche und Allzumenschliche des Jahres 1933. Und weil Paula Buber darin natürlich ihre Heppenheimer Erfahrungen verarbeitet hat, hat „Muckensturm“ gewisse Ähnlichkeiten mit der Bergsträßer Kreisstadt. Und mit vielen anderen Kleinstädten auch, denn natürlich war kein „Schlüsselroman“ über Heppenheim beabsichtigt.

Viele Heppenheimer lasen das Buch aber so, und keinem fiel auf, wieviel provinzielle Eitelkeit sich darin offenbarte zu glauben, die Autorin habe über diesen und jenen Heppenheimer Kleingewerbetreibenden, Beamten oder Pastor ein Buch schreiben wollen, womöglich um diese Menschen persönlich bloßzustellen. Martin Buber, in weiser Voraussicht, hatte den Verleger gebeten, das Buch nicht bei der Druckerei Otto herstellen zu lassen, „um nicht einen lokalen Muckensturm zu provozieren" [41]. Der kam dann doch, und die Heppenheimer haben sich mit ihrer falschen Perspektive und ihrem Entschlüsselungswahn um ein Lesevergnügen gebracht. Die Kritiker außerhalb Heppenheims waren überwiegend von dem Werk angetan, wenn auch mehrfach bemängelt wurde, daß die Nazis zu gut wegkämen.

Paula Buber war mit „Muckensturm“ ihrer Zeit weit voraus. Es ist – trotz Chaplin und Lubitsch [42] - eine Entwicklung erst unserer jüngsten Vergangenheit, daß man über die Nazis auch lachen darf, über sie und die ganze groteske Lächerlichkeit und Wichtigtuerei, die eben auch ein Element der Wirklichkeit im NS-Staat war. „Muckensturm“ ist, nach all den Belästigungen, Bedrohungen und Ängsten, die Paula Buber in den letzten Jahren ihres Heppenheimer Aufenthalts erleiden mußte, ein ganz überraschend humorvolles Buch. Und wer sich nicht mit seiner gekränkten Eitelkeit selbst im Weg steht, kann hinter den satirischen Spitzen eine Wahrhaftigkeit und Menschlichkeit spüren, die den erhabenen Worten in Martin Bubers Friedenspreis-Rede in nichts nachsteht.


[1] Martin Buber, Briefwechsel aus sieben Jahrzehnten, Bd. III, Heidelberg 1975, S. 612.

[2] Sieglinde Denzel und Susanne Naumann: „Am lebendigen Wasser“, Paula Buber, in: Esther Röhr (Hrsg.): Ich bin was ich bin, Frauen neben großen Theologen und Religionsphilosophen des 20. Jahrhunderts, Gütersloh 1997.

[3] Rafael Buber: Die Buber-Familie, Erinnerungen, in: Werner Licharz (Hrsg.): Dialog mit Martin Buber, Frankfurt am Main 1982, S. 346-361, hier S. 347f.

[4] Die damalige Kaiserstraße ist die jetzige Karl-Marx-Straße.

[5] Illustrierter Führer durch Heppenheim a.d.B. u. Umgebung mit Hotel und Pension „Zum Halben Mond“, Besitzer K. M. Seibert, S. 68.

[6] Martin-Buber-Archiv (MBA).

[7] MBA.

[8] MBA.

[9] MBA.

[10] Von „Erdkohlraben mit weißer Soße“ über „Erdkohlrabenfrikadellen“ und „Erdkohlrabensuppe“ bis hin zu „Erdkohlrabenkuchen“ und „Erdkohlrabenplätzchen“.

[11] Illustrierter Führer..., S. 70.

[12] Karte Martin Bubers an Gustav Landauer vom 1. Mai 1915, MBA.

[13] MBA.

[14] Interview with Benno Frank in: Haim Gordon, The Other Martin Buber, Ohio University Press 1988, S.95.

[15] Interview with Fania Scholem (Gershom Scholem’s wife), in: Haim Gordon, The Other Martin Buber, S. 138.

[16]Martin Buber erwähnt in einem Brief an Ludwig Strauß vom 13.4.1933, er habe am Vortag „hier“ in der Synagoge gepredigt. Briefwechsel Martin Buber - Ludwig Strauß 1913-1953, hrsg. v. Tuvia Rübner und Dafna Mach, Frankfurt am Main 1990, S. 164.

[17] Brief von Erwin Goldschmidt, Kibbutz Saad, Israel, vom 28.10.1999 an den Verfasser.

[18] First Interview with Moshe Shpitzer, in: Haim Gordon, The Other Martin Buber, S. 150.

[19] wie Fn. 17.

[20] Brief Luise Holzachs an Martin Buber vom 20. Juni 1925, MBA.

[21] Second Interview with Jochanan Bloch, in: Haim Gordon, The Other Martin Buber, S. 77 („No, Buber was not an educator. He was a good person who was prepared to help.“)

[22] Brief von Franz Rosenzweig an Rudolf Hallo, Anfang Dezember 1922, in: Franz Rosenzweig, Briefe und Tagebücher, Bd. 2, Den Haag 1979, S. 863-866.

[23] Lambert Schneider, Rechenschaft über vierzig Jahre Verlagsarbeit 1925-1965, Ein Almanach, Heidelberg 1965, S. 16.

[24] MBA.

[25] Martin Buber, Briefwechsel..., Bd. II, Heidelberg 1973, S. 341.

[26] First Interview with Judith Buber-Agassi, in: Haim Gordon, The Other Martin Buber, S. 12f.

[27] First Interview with Barbara Goldschmidt, in: Haim Gordon, The Other Martin Buber, S. 30f.

[28] First Interview with Judith Buber-Agassi, in: Haim Gordon, The Other Martin Buber, S. 3.

[29] Werner Kraft, Gespräche mit Martin Buber, München 1966, S.83.

[30] Martin Buber, Briefwechsel..., Band II, S. 475.

[31] First Interview with Menachem (Hermann) Gerson, in: Haim Gordon, The Other Martin Buber, S. 100.

[32] Oskar Loerke, Tagebücher 1903-1939, Hrsg. v. Hermann Kasack, Frankfurt am Main 1986, S. 333.

[33] Geno Hartlaub in einer Sendung in NDR 3 am 23.6.1985, zit. nach: OSO Hefte, Neue Folge 10, 1985, S. 76.

[34] First Interview with Moshe Shpitzer, in: Haim Gordon, The Other Martin Buber, S. 149.

[35] Martin Buber, Briefwechsel..., Band II, S. 493.

[36] Martin Buber: Briefwechsel..., Band II, S. 553.

[37] MBA.

[37a] Martin Buber: Sie und wir, in: ders.: Der Jude und sein Judentum, Gesammelte Aufsätze und Reden, Köln 1963, S. 648-654, hier S. 649.

[37b] Uwe Dietrich Adam: Judenpolitik im Dritten Reich, Königstein/Ts. 1979, S. 125ff.

[38] Martin Buber, Briefwechsel ..., Band II, S. 258.

[39] Second Interview with Judith Buber-Agassi, in: Haim Gordon, The Other Martin Buber, S. 26.

[40] Martin Buber, Das echte Gespräch und die Möglichkeit des Friedens, in: Martin Buber, Fünf Ansprachen anläßlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels, Frankfurt a.M. 1953, S. 33f.

[41] Brief Martin Bubers an Lambert Schneider vom 19.2.1948, MBA.

[42] Charles Chaplins „The Great Dictator“ (1940) und Ernst Lubitschs „To Be or Not To Be“ (1942) blieben, nachdem der Umfang der Nazi-Verbrechen allgemein bekannt war, für Jahrzehnte isolierte Ereignisse der Filmgeschichte.